Ich lerne Peter Weiss 1979 kennen. Ein Deutschlehrer empfiehlt uns 
Die Ermittlung zur Lektüre. Er sagt, es sei keine Zeit, das Stück im Unterricht zu behandeln, aber es sei sehr lesenswert, wenn wir etwas über die Bundesrepublik verstehen wollten. Meine Neugier ist geweckt. Ich leihe mir das Buch in der Bonner Stadtbibliothek aus und erwische ein Exemplar mit den Spuren anderer Leser, Unterstreichungen, Anmerkungen und Kommentare – und nicht nur zustimmender Art. Ein Leser hat sehr oft »FALSCH« oder »stimmt nicht« auf den Seiten notiert. Ich lese das Stück an einem Nachmittag und bin erschüttert. Einzelne Szenen lese ich immer wieder. Ich beginne eine Ahnung davon zu bekommen, was Auschwitz bedeutet.
Und dann lese ich nur die Stellen, an denen »FALSCH« oder »stimmt nicht« steht. Ich frage mich, wie kann ein Stück, das einen Prozess dokumentiert, falsch sein. Ich beginne etwas über die Wirkung von Literatur zu verstehen. Das Stück erzählt nicht nur von Deutschland während des Nationalsozialismus. Es erzählt auch von der Wirklichkeit des Frankfurter Auschwitz-Prozesses 1965, vom Sprechen über das Geschehen 20 Jahre danach. Und der Leser, dessen Anmerkungen ich 14 Jahre später in der Hand habe, 2 Jahre nach dem Deutschen Herbst, liest immer noch gegen die Weiss’sche Analyse eines Landes an. Ich verlängere das Buch zweimal, dann muss ich es zurückgeben. Wenig später kaufe ich es im Modernen Antiquariat, weil ich glaube es noch brauchen zu können.
1986 arbeite ich für Robert Wilson in New York an Heiner Müllers 
Die Hamletmaschine. Heiner Müller ist einige Tage bei den Endproben und irgendwann spricht Müller von der Abwesenheit von Geschichte, von Peter Weiss, von der Genauigkeit der Darstellung von Zusammenhängen und von dem Text 
Meine Ortschaft. Ich erinnere mich, den Text Anfang der 80er gelesen zu haben, und besorge ihn mir einige Tage später in der Public Library. Am nächsten Morgen sitze ich früh im Central Park, umgeben von Joggern, und lese mit dem Wissen, dass viele der Auschwitz Entkommenden/ Überlebenden in New York ihren Platz gefunden haben, Piscator hier gelebt hat. Zurück in Deutschland, lese ich wieder einmal 
Die Ermittlung und stolpere mittlerweile über meine eigenen Anmerkungen, das Staunen über den 17-jährigen Leser.
1988 arbeite ich wieder für Wilson, diesmal als Dramaturg seines Stückes 
The Forest an der Freien Volksbühne in Westberlin. Ich komme mit einem der Tontechniker ins Gespräch und er erzählt von einem Mitschnitt der Uraufführung der 
Ermittlung, die hier 1968 stattgefunden hat. Der Mitschnitt liegt im Tonarchiv. Nach einer Probe sitze ich nachts in der Tonkabine im leeren Theater und höre mir das Band an. Die Mikrofone waren im Zuschauerraum positioniert. Während ich das Band höre, mache ich eine Zeitreise in den Abend der Aufführung, spüre das damals notwendige Pathos der Schauspieler und die Aufmerksamkeit der Zuschauer, die Stille und Unruhe im Parkett während einzelner Szenen. Und wieder trifft mich die Kraft des Textes, die Schonungslosigkeit der Montage, die Genauigkeit des Blickes. Ich gehe nach Hause und greife zum Peter-Weiss-Lesebuch In Gegensätzen denken, schlage Seite 198 auf und gehe auf die Reise in den Text 
Meine Ortschaft, das Resultat der Reise von Peter Weiss nach Auschwitz. Und lande wieder beim letzten Satz »Dann weiß er, es ist noch nicht zu Ende.«
Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Text gelesen habe, zeitweise konnte ich Passagen auswendig, weil er mich bei jeder Lektüre wieder neu, anders berührt hat. Der Text beschreibt für mich die Erfahrung einer Differenz, das Wissen um einen Ort und das Erleben dieses Ortes, das Dort-anwesend-Sein, das Gedächtnis der Steine und der Landschaft in einem bestimmten historischen Moment.
Als ich im September 2016 im Auftrag des Goethe-Instituts zusammen mit der Dokumentarfilmerin Regine Dura in Lima auf den Spuren des 
Leuchtenden Pfades unterwegs bin, treffen wir den peruanischen Theatermacher Miguel Rubio von der Gruppe »Yuyachkami«. Sofort haben wir eine Basis für unser Gespräch, die Notizen zum dokumentarischen Theater von Peter Weiss. »Das dokumentarische Theater tritt ein für die Alternative, daß die Wirklichkeit, so undurchschaubar sie sich auch macht, in jeder Einzelheit erklärt werden kann.«
Peter Weiss ist für mich immer ein wichtiger Gesprächspartner gewesen, obwohl wir uns nie getroffen haben. Ich begegne ihm beim Griff nach seinen Texten, im Lesen, Wiederlesen, Gegenlesen, und er hilft mir beim Überprüfen meiner Positionen, bei der Arbeit am Denken in Gegensätzen, das auch eine Arbeit an Sätzen ist, die für und gegen etwas sind. Später habe ich seine Filme und Bilder gesehen, die mir anderes über mich erzählten/erzählen. Es ist mir immer wieder etwas aufgefallen. Das Thema der Beschreibungshoheit beschäftigt uns beide. Wir sind nicht in allem einer Meinung in der Beschreibung der Welt, was wohl auch daran liegt, dass wir in verschiedenen Welten leben. Dennoch – fast immer wenn ich auf die Reise in eine neue Arbeit gehe, habe ich ein Buch von Peter Weiss im Gepäck. Ich kann es brauchen.
Hans-Werner Kroesinger